Volkstheater Frankfurt – Liesel Christ

Einzug des Volkstheaters im Haus der Jugend
Einzug des Volkstheaters Frankfurt in seine erste feste Spielstätte im Haus der Jugend, 1972
(Foto: Henriette Zinkand-Thiel)

Am 18. Juni 1971 wurde das Volkstheater Frankfurt mit einer Inszenierung des Mundartklassikers „Der alte Bürgerkapitän“ von Carl Malss im Großen Saal des Volksbildungsheims eröffnet. Die Gründerin Liesel Christ schuf damit dem literarischen Volkstheater im Frankfurter Dialekt eine Bühne. Die Idee eines Frankfurter Mundarttheaters hatte die Schauspielerin spätestens seit ihrem 50. Geburtstag 1969 verfolgt. Unbeirrt von kritischen Stimmen, die sich etwa an ihrer Vergangenheit als Mamma Hesselbach stießen, warb Liesel Christ um ideelle und finanzielle Unterstützung für ihren Plan, stellte eine regelrechte Bürgerinitiative auf die Beine, gewann wichtige Förderer auf kommunalpolitischer Ebene, allen voran Oberbürgermeister Willi Brundert, dann dessen Nachfolger Walter Möller und Rudi Arndt, verbündete sich mit Heinrich Heym von den „Freunden Frankfurts“, fand den Regisseur und Schauspieler Kurt Karas als ersten künstlerischen Leiter und den Schriftsteller Ernst Nebhut als frühen „Hausautor“ für ihr Theater. Als Träger der künftigen Bühne wurde am 28. Januar 1971 der gemeinnützige Verein „Frankfurter Volkstheater“ gegründet.

Volkstheater, Bürgerkapitän
„Der alte Bürgerkapitän“ von Carl Malss, Eröffnungsvorstellung des Volkstheaters Frankfurt mit Peter Schlapp, Liesel Christ, Josef Wageck und Dieter Schmiedel (v. l. n. r.), 1971
(Foto: N. N.)

Trotz allen Einsatzes noch ohne eigene Spielstätte und ohne regelmäßige städtische Subventionen, spielte das Volkstheater Frankfurt nach seiner Eröffnung 1971 zunächst in den Bürgerhäusern und begründete gleich im ersten Sommer seines Bestehens die seitdem alljährlich veranstalteten Freilichtspiele im Innenhof des Dominikanerklosters. Im Oktober 1972 bezog es seine erste feste Spielstätte im „Haus der Jugend“ in Sachsenhausen, bevor es drei Jahre später sein Domizil im Cantate-Saal im Großen Hirschgraben 21 neben dem Goethehaus erhielt.

Das Volkstheater Frankfurt wurde wesentlich von seiner Prinzipalin und Ersten Schauspielerin Liesel Christ geprägt. Von Anfang an hatte die Christ ausdrücklich erklärt, dass ihre Bühne mehr sein sollte als ein „Frankfurter Ohnsorg“ oder gar ein „Hesselbach-Theater“: „Wir wollen das Volkstheater auf der breiten Weltliteratur gründen“, sagte sie in einem Fernsehinterview anlässlich der Eröffnung 1971. Um ihr Ziel eines modernen literarischen Volkstheaters erreichen zu können, musste sie sich – im wortwörtlichen Sinne – Stück für Stück steigern. Die künstlerische Entwicklung der Bühne lässt sich auch anhand der Rollen aufzeigen, die die Christ im Laufe der Jahre dort spielte. Frühe Erfolge feierte sie in zeitgenössischen Schwänken, etwa als Frau Knopp in „Uff de Trepp“ und in der Titelrolle von „Die Kandidatin“ (Regie beider Inszenierungen: Kurt Karas, 1973), die, nicht zuletzt dank erster Fernsehaufzeichnungen ab 1975, die finanzielle Basis für den künstlerischen Fortschritt zu schaffen halfen. Bald übernahm die Christ wichtige Rollen in klassischen Mundartstücken, u. a. in „Der fröhliche Weinberg“ von Carl Zuckmayer (Annemarie, 1976), „Alt-Frankfurt“ von Adolf Stoltze (Frau Schnippel, 1976) und „Katharina Knie“ von Carl Zuckmayer (Bibbo, 1978), sowie in modernen Volksstücken, u. a. in „Die Jubilarin“ von Joseph Breitbach (Titelrolle, 1977), „Schweisch, Bub!“ von Fitzgerald Kusz (Mutter Gretl, 1977) und „Bleiwe losse“ von Wolfgang Deichsel (Frau Kress/Frau Koch/Pflegerin/Frau Bach/Frau Körner, 1978), alle unter der Regie von Wolfgang Kaus, der seit 1974 neuer Hausregisseur des Volkstheaters war. Zum Team des Volkstheaters gehörten inzwischen außerdem beide Töchter von Liesel Christ, Gisela Dahlem-Christ (später Christ von Carben) als Geschäftsführerin und Bärbel Krafft (später Christ-Heß, dann Schöne von Carben) als Bühnen- und Kostümbildnerin.

Volkstheater, Jubilarin
„Die Jubilarin“ von Joseph Breitbach, Gespräch des Autors (li.) mit der Hauptdarstellerin Liesel Christ und dem Regisseur Wolfgang Kaus bei den Proben im Volkstheater Frankfurt, 1977
(Foto: Günter Englert)

Im Sommer 1979 brachte das Volkstheater Frankfurt den „Urfaust“ mit hessischem Zungenschlag heraus, damals ein gewagtes Experiment, das zum sensationellen Erfolg wurde und Maßstäbe für das moderne Mundarttheater setzte. Dem Ensemble um Regisseur Wolfgang Kaus und Prinzipalin Liesel Christ, die selbst die Rolle der Marthe Schwerdtlein spielte, trug die geglückte Inszenierung zunächst nicht nur eine weitere Fernsehaufzeichnung ein, sondern auch ein erstes Gastspiel in Israel (anlässlich der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags zwischen Frankfurt und Tel Aviv, 1980). Um diese Zeit stieg Wolfgang Kaus zum künstlerischen Leiter des Volkstheaters Frankfurt auf und arbeitete seitdem noch intensiver mit Liesel Christ in der Theaterleitung und insbesondere bei der Spielplangestaltung zusammen. Künftig spielte das Volkstheater jährlich mindestens einen literarischen Klassiker, u. a. Kleists „Der zerbrochne Krug“ (1980), Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ (1981), Hauptmanns „Der Biberpelz“ (1985), Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ (1994), Brecht/Weills „Die Dreigroschenoper“ (1998) und Goethes „Urgötz“ (1999); dazu kamen die Komödien der Weltliteratur, u. a. von Molière (erstmals 1983), Goldoni (erstmals 1984) und Shakespeare (erstmals 1985), die Kaus ab den späten 1980er Jahren meist in eigener Bearbeitung für das Volkstheater herausbrachte. Nach Kaus’ Konzept sollten außerdem in jeder Spielzeit ein traditionelles Frankfurter Lokal- oder hessisches Mundartstück (etwa von Adolf Stoltze, Ernst Elias Niebergall, Carl Zuckmayer und Carl Malss), ein modernes Volksstück (etwa von Joseph Breitbach, Fitzgerald Kusz und Wolfgang Deichsel) und ein handfester Schwank (etwa „Der Raub der Sabinerinnen“, 1993, aber auch französische Schwänke von Labiche und Feydeau) auf dem Spielplan des Volkstheaters stehen, eine probate Mischung, die der Bühne jahrzehntelang – auch über den Tod der populären Prinzipalin Liesel Christ 1996 hinaus – ein treues Stammpublikum sicherte. In späteren Jahren traten die Schwänke im Programm des Volkstheaters zugunsten von Singspiel, Operette und Musical zurück, wofür etwa die Aufführungen von „Im Weißen Rößl“ (1996) und „Anatevka“ (2005) stehen (alle hier erwähnten Stücke in Inszenierungen von Wolfgang Kaus).

Volkstheater, Urfaust
„Urfaust“ von Johann Wolfgang Goethe, Inszenierung des Volkstheaters Frankfurt mit Liesel Christ als Marthe und Heinz Werner Kraehkamp als Mephisto, 1979
(Foto: Harald Meisert)

Im literarischen Programm des Volkstheaters war Liesel Christ etwa als Marthe Rull in Kleists „Der zerbrochne Krug“, in der Titelrolle von Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ und als Mutter Wolffen in Hauptmanns „Der Biberpelz“ zu erleben. Ab Mitte der 1980er Jahre, als sie sich zunehmend auf ihre repräsentativen Pflichten als Prinzipalin zu beschränken begann, übernahmen weitgehend Gisela Dahlem-Christ als geschäftsführende Intendantin und Bärbel Krafft (später verh. Christ-Heß) als technische Direktorin sowie Wolfgang Kaus als künstlerischer Leiter den Theaterbetrieb, den sie als Leitungsteam nach Liesel Christs Tod 1996 fortführten; bereits seit 1995 trug die Bühne zusätzlich den Namen der Gründerin: „Volkstheater Frankfurt – Liesel Christ“. Während in den Anfangsjahren die Stücke oft unter dem Gesichtspunkt ausgewählt worden waren, ob sie eine gute Rolle für die Christ als beliebte Mittelpunktschauspielerin in dem stets stimmigen Ensemble des Hauses boten, verstand es Kaus später, immer wieder andere populäre Fernseh- und Schlagerstars an das Volkstheater zu holen und zu binden, oft in für sie ungewöhnlichen und deshalb für das Publikum besonders interessanten Rollen, u. a. Heinz Schenk (erstmals 1987), Maria Mucke (1993), Margit Sponheimer (erstmals 1999), Ralf Bauer (erstmals 1999) und Tony Marshall (2005); die damals noch unbekannte Schlagersängerin Helene Fischer wirkte 2005 als eine der fünf Töchter des Milchmanns Tevje (gespielt von Tony Marshall) in der Freilichtinszenierung von „Anatevka“ am Volkstheater mit. Nach 33 Jahren und 130 Inszenierungen verabschiedete sich Wolfgang Kaus in einer Gala im Cantate-Saal 2007 von seinem Publikum. Für die Inszenierung des hessischen „Jedermann“ in einer Freilichtaufführung im Archäologischen Garten vor dem Dom kehrte er 2010 noch einmal an das Volkstheater Frankfurt zurück.

Nach wechselnden Geschicken in den letzten Jahren wurde das Volkstheater Frankfurt im Mai 2013 geschlossen. Zur Erinnerung gründete Gisela Christ von Carben kurz vor ihrem Tod 2015 die Volkstheater Frankfurt – Liesel Christ, Liesel und Gisela Christ-Stiftung.

Sabine Hock

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